Das ganze Ausmaß der Katastrophe kommt erst nach dem Tod des Kollegen ans Tageslicht, irgendwann im Herbst 1995: Im August war Peter Bickels Kollege Gerhard Zöll gestorben. Er wurde nur 54 Jahre alt. „Es ging alles schnell“, sagt Bickel an diesem grauen Februartag in seinem Wohnzimmer in Bebra. „Gerhard erkrankte 1995 und verstarb noch im gleichen Jahr. Das war ein riesiger Schock.“
Ein Schock war auch, was die Ärzte in der Lunge des Verstorbenen fanden: Asbestfasern. Gerhard Zöll, das war jetzt klar, war an Asbest gestorben. Mit Asbest aber, das wurde in den folgenden Monaten auch klar, kam er an seinem Arbeitsplatz in Kontakt. Und Gerhard Zöll traf es nicht allein.
Peter Bickel ist heute 72 Jahre alt. Im Oktober 2007 diagnostizieren Ärzte bei ihm Asbestose. Kleine und kleinste Asbestfasern hatten sich in seiner Lunge abgelagert. Sie führen dort zu einer bindegewebigen Verhärtung des Lungengewebes, die das Atmen zunehmend erschwert und auch zu Lungenkrebs führen kann. Die Lungenkrankheit ist unheilbar – und hat eine lange Vorgeschichte.
1966 beginnt Peter Bickel als junger Mann seinen neuen Job. In den Anfangsjahren arbeitet er als Maschinenschlosser in der Hauptwerkstatt. Dort kommen die Beschäftigten mit dem Werkstoff Marinite in Berührung, ein hitzebeständiges Isoliermaterial. Sie sägen, schneiden, schleifen die Asbestplatten. All diese Arbeiten führen sie ungeschützt aus. Sie kennen die Gefahr nicht. Das gilt aber nicht nur für ihn und seine Kollegen. Das gilt in ganz Deutschland. Die Gefahren von Asbest sind zwar allseits bekannt. Sie werden aber lange heruntergespielt. Bereits um 1900 wies die Wissenschaft die tödliche Wirkung auf die Lunge nach. Aber erst 1993 wird die Herstellung und Verwendung von Asbest in Deutschland verboten. Doch auch wenn Asbest mittlerweile seit Jahrzehnten nicht mehr verbaut wird: Die gesundheitlichen Langzeitfolgen sind hochaktuell. Denn Asbest entfaltet seine tödliche Wirkung erst nach Jahrzehnten. Das ist das Tückische.
Für Peter Bickel war die Diagnose ein Schock und der Beginn eines Kampfs: als Patient um Anerkennung seiner Krankheit als Berufskrankheit, als Mitglied in einer Asbestose-Selbsthilfegruppe für die Interessen von Kolleginnen und Kollegen. „Das ist wichtig. Oft kommt zum Schock der Diagnose noch ein zweiter dazu: wenn der Betroffene merkt, dass der Weg bis zur Anerkennung einer Berufskrankheit mitunter steinig und lang sein kann.“
Den Nachweis müssen Betroffene selbst bringen
Zwar ist die Asbestose bereits seit 1936 als Berufskrankheit verzeichnet. Das heißt aber nicht, dass es für Betroffene leicht ist, dass ihre Erkrankung offiziell als Berufskrankheit anerkannt wird. Der Hauptgrund dafür ist: In Deutschland müssen Erkrankte selbst nachweisen, dass ihre Erkrankung auf ihre Arbeit zurückzuführen ist – und zwar ursächlich und elementar. Das aber ist alles andere als einfach. „Zu uns kommen Kollegen, die müssen darlegen, mit welchen asbesthaltigen Stoffen sie vor 30 Jahren über welchen Zeitraum wie intensiv in Kontakt kamen“, sagt Bickel. Viele wüssten das nicht. Und könnten auch nicht nachforschen. „Entweder weil es keine Dokumente im Betrieb gibt. Oder weil es den Betrieb nicht mehr gibt.“
Bei Peter Bickel gab es Dokumente, immerhin. Doch auch mit ihnen erfolgt eine Anerkennung nicht automatisch. „Es ist äußerst wichtig, dass Betroffene sich in allen Etappen des Anerkennungsverfahrens beraten lassen“, sagt der 72-Jährige. „Auf diese Weise lassen sich Fehler vermeiden, die schlimmstenfalls zu einem Verlust von Ansprüchen führen.“
Peter Bickel hat seine Ansprüche durchgesetzt. Knapp vier Monate nach seiner Diagnose bekam er einen Bescheid seiner Berufsgenossenschaft – seine Asbestose wird als Berufskrankheit anerkannt. Kosten für Untersuchungen und sich daraus ergebende Behandlungen werden übernommen. Ein Erfolg, ja. Die Diagnose aufheben aber, die Krankheit verschwinden lassen, das kann der Bescheid nicht. „Ich muss mit der Krankheit leben. So gut es eben geht.“